Johann Gottfried Tulla

Mitglied von 1801 – 1828

Es ist ein undurchdringlicher Urwald. Zwischen dicht stehenden Bäumen wuchern Schling- und Kletterpflanzen, meterhohe Gräser, Farne und Schilfe aller Art. Der Fluss mäandert in etlichen Schleifen durch das Gebiet, durchfließt es in hunderten Armen, bildet abertausende Inseln, die niemand zu überblicken oder gar zu zählen vermag. Wo das Wasser sich zurückzieht, hinterlässt es Sümpfe, in deren tiefem Morast ein jeder Schritt zur Gefahr wird und woraus faulige, giftige Dünste aufsteigen: Sie entfachen beim Menschen ein tödliches Fieber. In der feuchten Hitze brüten dort Schwärme von Schnaken und anderem Ungeziefer, das jeden, der sich hierherwagt, bis aufs Blut plagt.

Das ist keineswegs ein Auszug aus einem Expeditionsbericht des ACE, ins Amazonas-Gebiet etwa, sondern so schilderte Johann Gottfried Tulla die Situation in seiner Heimat Baden, entlang des Rheins, als er im Jahre 1801 das erste Mal beim ACE vorsprach. Das Protokoll seiner Rede wird heute im Archiv des ACE aufbewahrt.

Der junge Offizier und Ingenieur war von Markgraf Karl Friedrich zum Studium nach Paris gesandt worden. Er sollte sein bereits reiches Wissen im Wasserbau zum Nutzen des modernen Badischen Staates an einer einzigartigen neuen Hochschule vertiefen: Wie nirgends sonst wurden an der École polytechnique revolutionäre theoretische Erkenntnisse gleich auch in der Praxis erprobt. Hier läuteten die renommiertesten Wissenschaftler der Zeit das neue technologische Zeitalter ein.

Doch selbst unter diesen Visionären stieß Tulla mit seinen kühnen Vorstellungen nicht selten auf Unverständnis. Allein einer seiner Professoren schenkte ihm Gehör und lud ihn zu einer geheimen Zusammenkunft des Adventure Club of Europe ein. Hier sei man offen für das, was andere als unglaublich oder unmöglich abtäten, versicherte der Professor, der dem Club angehörte.

Und in der Tat, während er in einem eleganten Pariser Salon den Berichten von weltweiten Expeditionen und unerhörten neuen Erfindungen lauschte, schwankte Tulla selbst zwischen Faszination und Unglauben. Zugleich fühlte er sich ermutigt, seinen eigenen ehrgeizigen Plan zum ersten Mal auszusprechen. So liest man im Protokoll weiter:

Vor allem aber bringt der Rhein von Jahr zu Jahr verheerende Überschwemmungen. Das Hochwasser verschlingt fruchtbares Ackerland und reißt ganze Dörfer mit sich.

Doch wir, Mesdames et Messieurs, wir leben jetzt im 19. Jahrhundert! Wir müssen uns den Launen der Natur nicht mehr beugen. Wir haben heute die technischen Möglichkeiten und, ja, ich möchte sagen: deshalb auch die moralische Pflicht, einen solchen Strom zu beherrschen.

Wir werden dem Fluss ein ganz neues Bett schaffen! Einen geraden Verlauf, nach unseren eigenen Vorstellungen und Berechnungen. Nur so lässt er sich zähmen, wird vom unberechenbaren Zerstörer zu einer Lebensader.

Einen Strom wie den Rhein begradigen, ihm über hunderte Meilen hinweg ein künstliches Bett geben? Hätte Tulla so etwas woanders auch nur angedeutet, man hätte ihn des Größenwahns bezichtigt.

Die Mitglieder des ACE jedoch reagierten mit Begeisterung.
Einstimmig wurde Tulla in den Club aufgenommen und erhielt jede erdenkliche Unterstützung: In den geheimen Archiven des ACE nahm er Einblick in Zeichnungen von ausgeklügelten Kanalsystemen der Maya. Man überreichte ihm die Prototypen präzisester Messgeräte. Und der ACE-Präsident persönlich setzte ein Empfehlungsschreiben auf, das ihm auf französischer Seite die entscheidenden Türen öffnen würde. Schließlich war der Rhein Grenzfluss und man würde ihn nur in Zusammenarbeit mit Frankreich begradigen können.

Beflügelt vom Zuspruch und fest entschlossen, seinen Plan in die Tat umzusetzen, kehrte Tulla in die badische Heimat zurück. Er würde viel Geduld aufbringen und Überzeugungsarbeit leisten müssen: Bei Hof hielt man den Plan zunächst für undurchführbar, scheute die hohen Kosten. Der Kirche erschien er als unzulässiger Eingriff in die Schöpfung. Die französischen Präfekten auf der anderen Rheinseite begegneten dem jungen Deutschen mit Misstrauen. Und die Bevölkerung fürchtete um ihre Lebensgrundlage, da der neue Flusslauf ihre Dörfer und Äcker durchqueren sollte.

Doch Tulla arbeitete unermüdlich, Jahre, ja, Jahrzehnte lang gegen all diese Widerstände an. Er führte Vermessungen durch, zeichnete Karten, entwickelte Pläne. Sprach überall damit vor. Nutzte geschickt das Wissen und die Beziehungen des ACE. Stand mit den französischen Präfekten, nicht zuletzt wegen der Fürsprache des ACE-Präsidenten, bald in freundschaftlichem Verhältnis. So setzte sich in beiden Staaten mehr und mehr der Gedanke durch, dass man dieses ungeheuerliche Vorhaben gemeinschaftlich bewältigen könnte.

Da ihm zur Umsetzung qualifizierte Mitstreiter fehlten, gründete Tulla in Karlsruhe eine Ingenieursschule nach Vorbild der École polytechnique. Er gewann prominente Gastprofessoren, konnte gar die legendären Brüder Eulenstein dazu bewegen, hier gelegentlich Vorlesungen zu halten. Im Gegenzug verschaffte er ihnen durch seine guten Beziehungen im Staat Mittel für den Bau ihres Voletariums und bewirkte ihre Aufnahme in den ACE.

Es war denn auch ein geselliger Abend mit den Eulensteins, so erzählt man sich jedenfalls, der die entscheidende Idee, im Wortsinne den Durchbruch für seinen Plan brachte: Nach einem diplomatischen Besuch in Frankreich waren Tulla, die Brüder und deren guter Freund Paul Mack zu einem Umtrunk auf das Weingut Ollweiler geladen.

Man genoss den Wein, sang das eine oder andere Lied, abwechselnd auf Badisch und Französisch, und diskutierte angeregt die eine Frage, die dem Vorhaben noch im Wege stand: Auch wenn die Berechnungen korrekt, die Pläne präzise und die Entscheidungsträger nun überzeugt waren – wie sollte man je die immensen Aushubarbeiten für ein hunderte Meilen langes künstliches Flussbett bewältigen? Es fehlte an Mitteln und an Arbeitern. Wer sollte dieses übermenschliche Werk verrichten?

Da sprang Tulla plötzlich auf und rief ganz erregt: „Der Rhein selbst, meine Herren!“ Rasch ließ er sich eine Karte reichen und zeichnete an drei, vier strategischen Punkten gerade Linien durch die Rheinschleifen: „Wir müssen gar nicht alles selbst graben. Wir machen nur hier, hier und hier jeweils einen kurzen Durchbruch – und dann wird sich der Fluss, von uns geleitet, sein neues Bett schon ganz alleine suchen!“

Tullas Plan ging auf. 1817 entstand der erste Durchschnitt bei Karlsruhe, viele weitere folgten. Nach und nach fand der Fluss seinen neuen Lauf. Mit den Jahren traten all die vorhergesagten Besserungen ein: Die Hochwasser blieben aus, die Sümpfe, früher Seuchenherde, trockneten, man gewann neues Land, das vor Überschwemmungen sicher war. Der gezähmte Rhein wurde schiffbar und entwickelte sich zu jener bedeutenden Handels- und Reiseroute, die er bis heute ist.
Tullas Werk, dem eine ACE-Versammlung die Initialzündung gab, überdauert so die Jahrhunderte.